Nach nun 2 ½ Monaten im Nuru-Center habe ich die kreativen
Taub-Stummen und körperlich beeinträchtigten Menschen wirklich in mein Herz
geschlossen und auch so einiges von ihren Life-Stories erzählt bekommen. Besonders
zwei Lebensgeschichten haben mich sehr berührt.


Kevin arbeitet in der Nuru-Bäckerei. Jede Woche kaufe ich
ihm leckere Brötchen und ein Brot ab. Aufgewachsen ist er als Straßenkind. Ein
Leben ohne Familie, ohne Zuwendung, ohne Schulbildung (keiner war da, um ihm
die Gebühren zu zahlen), geprägt von Obdachlosigkeit, betteln, und wenn das
Geld nicht reichte und der Hunger zu groß wurde – vom Klauen. Als Jugendlicher
wurde er beim Stehlen erwischt und wie es in Tansania leider üblich ist, wird
man nicht der Polizei ausgeliefert sodass diese nach einheitlichen Richtlinien
den Fall regeln könnte – nein, es wird eingeprügelt. Bei Kevin so heftig, dass
ihm beide Beine amputiert werden mussten. Er läuft schwerfällig und langsam mit
seinen Prothesen – aber immerhin. Das ist auch nicht selbstverständlich. Im
Nuru-Center wurde er als Bäcker angelernt und hat eine 2. Chance im Leben
bekommen. Viele Dinge sind für ihn fremd. Zum Beispiel wurde ihm das Begrüßen beigebracht.
All die höflichen Floskeln, die hier in Tansania üblicherweise zur Begrüßung
ausgetauscht werden und für die Tansanier so wichtig erscheinen. Manchmal
kommen wir ins Nuru und Kevin sitzt vor dem Ofen und blättert in der Zeitung.
Laura, eine Mitarbeiterin, erinnert ihn – den erwachsenen Mann – fast wie ein
Kind doch ganz liebevoll an alles, was er so zum Thema „Höflichkeit und
soziales Miteinander“ gelernt hat.
Esther sitzt im Rollstuhl. Obwohl sie erwachsen ist, sieht
sie so zerbrechlich und dünn aus, dass man meinen könnte, sie sei noch ein Kind.
Obwohl sie ihre Beine angewinkelt hat und auf einem Sitzpolster abstellt (ich
weiß gar nicht, ob sie beide Beine ausstrecken kann) ist immer noch Platz im
Rollstuhl. So dünn ist sie. Ihr Rücken und ihre Beine wirken etwas verdreht.
Ich glaube, einige Knochen sind anatomisch nicht am richtigen Platz. Es ist so
bewundernswert, dass sie fast ohne Hilfe so gut klarkommt. Und sie ist so
herzlich – so eine freundliche und nette Frau. Wirklich begeisternd.

Zwei Wochen vor unserer Ankunft in Tansania wurde sie für
eine Fahrt ins Auto gehoben und bemerkte nebenbei: „Ich bin etwas schwerer
geworden.“ Laura schob ihr Bein etwas zur Seite und schaute auf ihren Bauch:
„Bist du schwanger?“ Die Antwort war “ ja“. Da sie so dünn ist, hat keiner
geahnt, dass sie schon hoch schwanger ist. „Die ersten Wochen behalten wir es
noch für uns“ entschieden die Mitarbeiterinnen. Zwei Wochen später bekam Laura
eine SMS von Esther: „Ich habe starke Schmerzen und hier ist so viel Wasser…“
Lauras erster Gedanken war: „Oh nein, ist der Wassertank schon wieder kaputt?“
Der Tank hatte einen Riss und darum stand das Nuru-Hostel einige Tage zuvor
unter Wasser. Alles schien ordentlich repariert worden zu sein, doch… you never
know… Manchmal ist es doch etwas provisorisch und hält nicht lange. Lauras Mann
ist Artz und er meinte nur: „Du meintest doch, sie ist schwanger, vielleicht
ist die Fruchtblase geplatzt? Fahr lieber mal hin.“ Laura entgegnete nur, dass
Esther doch erst seit 2 Wochen schwanger sei bzw. sie es erst seit 2 Wochen
wissen würde und dass es nicht möglich sei. Dennoch fuhr sie hin und es war
tatsächlich so, dass die Fruchtblase geplatzt war. Zum Glück hat noch alles gut
geklappt und sie kam rechtzeitig im OP an. Das Baby ist gesund und munter. Doch
nun startete die Tragödie: In Tansania ist es nach wie vor unüblich ein
uneheliches Kind zu gebären und allein zu erziehen. Das Nuru-Center ist mit auf
dem Gelände einer Kirche und der Pastor, wie auch viele andere, waren entsetzt
bzw. auch sehr überrascht, als Esther aus dem Krankenhaus mit einem Baby
zurückkehrte. (Manchmal sind 9 Monate Vorbereitung doch nicht so schlecht… und
eine Schwangerschaft hatte niemand geahnt.) Der Pastor wollte Esther nun aus
der Stadt schicken (eine übliche „Strafe“). Doch Menschen mit Behinderung sind
in Tansania sehr wenig angesehen und es finden sich selten Familienangehörige
oder Freunde, die sich diesen annehmen. Bei Esther ist die Pflege durch
Familienangehörige ausgeschlossen, da beide Eltern bereits an AIDS gestorben
sind. Sie und ihre Schwester lebten seit dem Tod der Eltern auf der Straße, bis
sie von einer deutschen Straßenkind-Organisation hier in Tansania aufgenommen
wurden. Esther wurde im Nuru-Center vorgestellt und hat sich dafür entschieden.
Seit dem wohnt sie dort. Das Nuru ist ihr zu Hause geworden, die Taub-Stummen
ihre Familie. Und nun sollte sie ausziehen? Mit ihrem Neugeborenen zurück auf
die Straße? Die Mitarbeiterinnen des Centers konnten sich zum Glück durchsetzen
und klarmachen, dass es für Mutter, wie für das Kind überlebenswichtig ist,
hier im Nuru zu wohnen. Wie soll sie denn im Rollstuhl durch die Schlaglöcher
kommen, wovon soll sie leben und wo wohnen? Zum Glück ließ sich das Herz des
Pastors erweichen und Esther und der kleine Daniel durften bleiben. Und der Kleine
ist wirklich süß. Nachdem die große Überraschung erst mal verdaut war, wurde
das Baby von allen sehr liebevoll angenommen. Sobald jemand eine kurze
Arbeitspause macht – wird sofort Daniel auf den Arm genommen und geknuddelt. :)
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